Die Mathematik ist eine Mausefalle. Wer einmal in dieser Falle gefangen sitzt, findet selten den Ausgang, der zurück in seinen vormathematischen Seelenzustand leitet. Es würde viel zu weit führen, den Grund dieser typischen Erscheinung bloßzulegen. Wir wollen uns daher nur mit der Feststellung ihrer Folgen befassen. Die erste Folge der „Mausefallen-Eigenschaft" der Mathematik ist ein großer Mangel an mathematischen Pädagogen. Nur sehr selten trifft mathematisches Können und leicht faßliche Darstellung zusammen. Dadurch aber ergibt sich als zweite Folge der „mathematische Minderwertigkeitskomplex" breiter Schichten Gebildeter und Bildungsfreundlicher.
Man mißverstehe mich nicht. Ich will nicht angreifen, sondern das Gegenteil: ich befinde mich selbst im Zustand der Verteidigung. Denn es ist durchaus nicht gewöhnlich, daß ein Laie sich anmaßt, die strengste aller Wissenschaften vorzutragen.
Da ich aber die eigenen Leiden und die Leiden meiner Mitschüler seit jeher beobachtete, reifte in mir der Plan, gleichsam mein Erlebnis der Mathematik noch in einem verhältnismäßig niedrigen Bildungsstadium aufzuzeichnen. Denn ich muß nach meiner eigenen Erkenntnis der „Mausefalle" befürchten, daß ich in einigen Jahren selbst den Rückweg nicht mehr finden würde. Es kam aber noch ein anderer triftiger Grund dazu, der mich zu meinem Unternehmen veranlaßte. Es ist handgreiflich, daß Mathematik, mathematische Methoden und die Begriffs der Mathematik zunehmend in alle Wissenschaften, ja sogar ins Alltagsleben
dringen. Und es ist ein durchaus unbefriedigender Zustand, beinahe ein Kulturskandal, daß sich der Leser einer halbwegs ernsten Abhandlung plötzlich einem Reich von Hieroglyphen gegen übersehen kann, das ihn erschreckt und vertreibt; oder daß er sich gar mit einem ironischen Achselzucken einer kleinen Schar Eingeweihter abspeisen lassen muß. Ich meine da durchaus nicht die Höhen der Relativitäts- oder Quantentheorie, sondern Dinge, die in jeder Zeitschrift für Volkswirtschaft oder Medizin stehen können. Von der Statistik ganz zu schweigen, die insbesondere in den angelsächsischen Ländern heute schon durch und durch mathematisiert ist. Zudem tritt die Mathematik noch viel versLeckter im täglichen Sprachgebrauch auf. Wir lesen in der Zeitung vom „integralen Faszismus", von „Mittelwerten", von „DurchschnitLstemperaturen", von „optimalen Leistungen", von „kritischen Kurvenpunkten", von „Kraftfeldern" u. dgl.: Ausdrücke, die unmittelbar der Mathematik und der mathematischen Physik entlehnt sind.
Es ist nun durchaus unnötig, daß man solche Worte bloß als leeren Schall empfängt oder gar sich selbst dadurch minderwertig oder ungebildet erscheint. Denn der Inhalt solcher Worte ist ebenso großartig als sinnbildhaft und ebenso faßlich als erlernbar.
Eines natürlich ist Voraussetzung: Eine gewisse, ganz unerläßliche Mühe des Lernens. Als etwa um 300 v. Chr. G. der größte Geometriker Griechenlands, Euklid, in Alexandrien von seinem König Ptolemaeus Philadelphus nach einer „bequemen" Unterrichtsmethode der Mathematik gefragt wurde, erwiderte er kühn: „Zur Mathematik führt kein Königsweg." Jeder oberflächliche Kenner des Wesens dieser Wissenschaft, die sich, rein im Geistigen wurzelnd, Stufe über Stufe aufbaut, muß diesen Worten des großen Griechen beistimmen. Es folgt aus solcher Erkenntnis aber durchaus keine Notwendigkeit defaitistischer Verzweiflung, denn zwischen „Königswegen" und „Himalajabcsteigun gen" gibt es nach dem Gesetz des stetigen Übergangs, dein Prinzip der Kontinuität, unzählige Zwischenmöglichkeiten.
Verdienstvolle und ausgezeichnete Gelehrte wie Georg Scheffers, S. P.Thompson und Gerhard Kowalewski haben diese Situation voll erfaßt und versucht, solche Zwischenstufen zu bauen. Die Einführungswerkc dieser drei großen Pädagogen sind eine dauernde Bereicherung der Kultur. Und nichts liegt mir ferner als die Vernu'sscnheit, etwa mit der wunderbaren Plastik eines Scheffers, mit der berauschenden Präzision und Eleganz Kowalewskis oder mit dem göttlichen Humor und der Reichhaltigkeit Thompsons wetteifern zu wollen. Aber — und dieses „Aber" ist entscheidend: Alle die drei angeführten Standardwerke setzen etwas voraus, was nicht vorausgesetzt werden kann, wenn man den mathematischen Minderwertigkeitskomplex restlos beseitigen will: Nämlich Gymnasialbildung oder zumindest eine Beherrschung der Elementarmathematik. Wie sehr aber oft gerade elementare Begriffe trotz aller Liebe zur Mathematik und trotz seinerzeit genossenem Mittelschulunterricht fehlen, habe ich am eigenen Leibe gefühlt, als ich mich weiterzubilden begann und den Kurs für höhere und statistische Mathematik besuchte, der im Österreichischen Bundesamt für Statistik gehalten wird. Dieses Erlebnis war auch die eigentliche Auslösungsursaclie meines — in voller und betonter Ehrfurcht vor wirklicher Wissenschaft unternommenen, besser gewagten — Versuchs. Denn ich lernte, daß es dreierlei Notwendigkeiten gibt, ein solches Buch entweder sich selbst zusammenzustellen oder es als Behelf von einem „Mitschüler" geliefert zu bekommen. Erstens kann es Ziel eines „Beflissenen", etwa eines Arztes, Volkswirtschaftlers, Kaufmanns, Industriellen, Tagesschriftslellers, Naturwissenschaftlers — aber auch eines Militärs, Beamten, Angestellten, Arbeiters, jungen Mädchens oder Schülers sein, die Begriffswelt der „unheimlichen" Mathematik in einer anderen als der scliulmäßigen Weise vom Einmaleins bis zum Integral kennenzulernen, um sich dabei das Allgemeinste anzueignen und dadurch eine gewisse innere Beruhigung zu erhalten. Es kann aber auch sein, daß der „Beflissene" mehr will. Er wird dann nach meiner bescheidenen Einführung sich getrost der starken Führerhand eines Scheffers, Thompson oder Kowalcwski anvertrauen und über diese Brücke so weit vordringen als er nur will; bis er in der „Mausefalle" sitzt und meine Wortverschwendung und Naivität gar nicht mehr begreift. Solche Leser werden mein besonderer Stolz sein, wenn sie mich auch nachträglich gründlich verachten sollten. Schließlich kann es aber auch vorkommen, daß Lernende sich meines Buches gleichsam als verfemten Hilfsmittels bedienen. Dafür bitte ich alle Pädagogen um Verzeihung und ersuche, mir keinen Ankläger zu senden, weil ich „die Jünglinge verderbe". Ich erkläre diesen Jünglingen auch an dieser Stelle apodiktisch, daß sie bei Widersprüchen nicht mir, sondern dem berufenen Lehrer zu glauben haben.
Weil ich eben von Lehrern sprach: Es ist mir eine ebenso angenehme wie unabweislichc Pflicht, dem ausgezeichneten Mathematiker Dr. Walther Neugebauer zu danken, der mich als Leiter des schon erwähnten Kurses in das eigentliche Zentrum der Mathematik geführt hat und mir die wahre Größe dieser Wissenschaft erst voll zum Bewußtsein brachte. Der Dichter Novalis hat gesagt: „Das Leben der Götter ist Mathematik. Alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein. Reine Mathematik ist Religion. Die Mathematiker sind die einzig Glücklichen. Der echte Mathematiker ist Enthusiast aus sich selbst. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik." Sollte es mir gelungen sein, dieses Geistes einen Hauch meinen Lesern zu vermitteln, dann wäre ich sehr glücklich. Denn leider erzeugt der „mathematische Minderwertigkeitskomplex" wie jeder solche Komplex Gefühle des Hasses und Ressentiments. Die herrliche griechische Mathematikerin Hypatia, die einzige Frau, der in der Geschichte der Mathematik Rang zuerkannt wird, ist sicher nicht allein aus religiösem Fanatismus vom Pöbel gesteinigt worden; und auch dem großen Leibniz habe ich in den Augen einiger konsequenter und unerbittlicher Antimathematiker dadurch keinen Dienst erwiesen, daß ich den Mittelpunkt seines Genies, die Mathematik, herauszustellen und nach dem lauten Zeugnis wirklich Berufener mit Erfolg zu gestalten mich erkühnte.
Diesen Abscheu vor der reinsten, fast möchte ich sagen heiligsten aller Wissenschaften soll eben dieses Buch bekämpfen helfen. Oberflächliche Geistesnäscher halten Mathematik für den Gipfel des Materialismus. Diesen sei gesagt, daß nicht nur für indische, babylonische und ägyptische Priester Religion und Mathematik in Nachbarschaft lebten und wirkten. Auch Pythagoras, Piaton, Cusanus, Pascal, Newton, Leibniz — um nur einige Namen zu nennen — schöpften eben aus der Mathematik die Erkenntnis, daß die „sicherste" aller Wissenschaften, an ihren Grenzen verschwimmend, wahren Glauben und wahre Demut vor dem Göttlichen erweckt.
Doch wir werden noch oft im Gange unseres gemeinsamen Vordringens Gelegenheit haben, solche Probleme zu streifen. Jetzt sei noch kurz die „Rollenverteilung" in meinem Buche berichtet: Soweit dies in der Mathematik, die ja durch die Zusammenarbeit von Jahrtausenden sich aufbaut, möglich ist, habe ich das vorliegende Buch allein verfaßt. Der Mathematiker Dr. Walther Neugebauer ging es zwar — dies zur Beruhigung kritischer Leser — nach Fertigstellung genau durch und gab mir einige wertvolle Winke. Ich wollte diesem Fachmann jedoch keinerlei Mitverantwortung aufbürden und ließ ihn deshalb selbständig zu Worte kommen, um so mehr, als ich den Rat des französischen Mathematikers Pierre Boutroux, beim Unterrichte die Darstellungsmethode zu wechseln, vielleicht allzu reichlich befolgt habe.
Großen Dank muß ich auch dem Mitglied des Wiener Künstlerhauses, Herrn Maler Hans Strohofer, abstatten, der es nicht unter der Würde seiner erprobten Kunst fand, nach meinen Angaben sämtliche Textfiguren zu zeichnen.
Daß aber mein ganzes Unternehmen in sehr schwerer und beschränkender Zeit wirklich in die Tat umgesetzt werden konnte, habe ich der opferwilligen und unentwegten Kulturbereitschaft meines Freundes und Verlegers Paul Zsolnay und der tatkräftigen Unterstützung durch meinen Freund und Berater in artibus, Direktor Felix Costa zu verdanken. Die gewissenhafte Herstellung des Buches und die große Mühe, ihm ein schmuckes und freundliches Gesicht zu geben, bleibt auch dann ein Verdienst, wenn sich meine zeitweilige Desertion aus dem Gebiet reiner Kunst als Mißgriff herausstellen sollte.
Und nun — es geht nicht anders, da zur Mathematik bekanntlich kein Königsweg führt — müssen wir, der Leser und ich, gemeinsam arbeiten, intensiv arbeiten, um vom Einmaleins bis zum Integral zu gelangen. Die prinzipielle Möglichkeit hoffe ich geboten zu haben. Das Weitere werden mir die Widersacher sagen.
Wien, 8. September 1934.
EGMONT COLERUS